Vor allem eines können Kinder viel besser als Erwachsene: ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Die Vorstellungskraft in jungen Jahren kann stärker sein als die Realität und hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung. Gerade das Lesen und Vorlesen eröffnet fantastische Welten, die so individuell sind wie jedes Kind und so wichtig für seine sozialen und kognitiven Fähigkeiten. Das zeigen auch die KI-generierten Bilder auf den folgenden Seiten, die nach Beschreibungen der Lieblingsgeschichten und -figuren von Kindern unterschiedlichen Alters entstanden sind. Es hat fatale Folgen, wenn kleinen Kindern nicht vorgelesen wird und sie dadurch später keinen Zugang zu Büchern finden. Deshalb engagieren sich die Vorleser:innen, Schirmherr:innen und das Organisationsteam von LeseWelten seit 20 Jahren ehrenamtlich für Bildung, mehr Chancengleichheit und den Spaß am Lesen – und sorgen so auch für eine bessere Gesellschaft von morgen.
Vorlesen wird oft als selbstverständlich angesehen. Dabei wird dieses Ritual zwischen Eltern und Kindern viel zu oft vernachlässigt. Ein besorgniserregender Zustand, denn das Vorlesen ist für die Zukunftschancen der Kinder enorm wichtig.
der ein- bis achtjährigen Kinder wird selten oder nie vorgelesen.
der Kinder ergreifen in Haushalten, in denen selten vorgelesen wird, selbst die Initiative zum Vorlesen.
der Eltern, die sich an Geschichten aus ihrer Kindheit erinnern können, geben diese auch weiter.
der deutschen Haushalte besitzen nicht mehr als zehn Kinderbücher.
Lässt man der Fantasie eines Kindes freien Laufen, sind ihr keine Grenzen gesetzt. Alles erscheint möglich, alles kann Begeisterung auslösen. Doch damit sich diese Einbildungskraft richtig entfalten kann, braucht es Unterstützung. Wichtig ist das regelmäßige Lesen oder bei Vorschulkindern vor allem das Vorlesen. Die Stiftung Lesen veröffentlicht jährlich einen Vorlesemonitor, der analysiert, wie viel Kindern zwischen einem und acht Jahren in Deutschland vorgelesen wird. Im Jahr 2023 gaben 36,5 Prozent der befragten Eltern an, selten oder nie vorzulesen – eine erschreckende Statistik.
In der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht auf Bildung verankert, dazu gehört auch die Beseitigung von Unwissenheit und Analphabetismus – und (Vor)Lesen gilt als starke Präventionsmaßnahme. Auch André Gatzke, der sich seit 2014 als Vorlese-Botschafter für LeseWelten engagiert, ist erschrocken über die rückläufigen Zahlen: „Wenn Kindern heute nicht vorgelesen wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie ihren Kindern auch nicht vorlesen. Dadurch fehlt ihnen der Wortschatz und die Fantasie. Das führt zu mangelnder Bildung”, sagt der TV-Moderator, den viele aus Serien wie „Die Sendung mit der Maus“, „2 durch Deutschland“ oder „Die Sendung mit dem Elefanten“ kennen.
Im Jahr 2023 gaben 36,5 Prozent der befragten Eltern an, selten oder nie vorzulesen – eine erschreckende Statistik.
Gerade dieses generationenübergreifende Lesen und Vorlesen ist sehr wichtig. Es fördert nicht nur die Begeisterung der Kinder für Bücher, sondern schafft auch eine Bindung zu den Eltern und legt den Grundstein für das spätere Vorleseritual mit den eigenen Kindern. Der Vorlesemonitor von Stiftung Lesen zeigt ebenfalls, wie stark das Vorlesen jede einzelne Person und die Gesellschaft prägt. Vor allem die Bildungsgerechtigkeit wird dadurch gefördert. Finden diese regelmäßigen Leserituale mit den Eltern nicht statt, kann dies zu einer verzögerten Sprachentwicklung, Aufmerksamkeitsproblemen und geringeren kognitiven Fähigkeiten führen. Insgesamt sinkt das Interesse an Bildung und Büchern enorm. Dabei geht es nicht nur um bessere Bildungschancen: Durch das Lesen lernen Kinder, besser mit Gefühlen umzugehen und komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Fehlen diese Impulse durch das (Vor-)Lesen, kann das negativen Einfluss auf die Entwicklung von Empathie, Fantasie, Kreativität und sozialer Kompetenz haben.
Das Bildungsniveau der Eltern spielt eine wichtige Rolle für die Vorleserituale, die sie an ihre Kinder weitergeben. Laut Vorlesemonitor lesen nur 29 Prozent der Eltern mit formal niedriger Bildung ihren Kindern mehrmals pro Woche vor. Im Vergleich dazu geben 40 Prozent der Eltern mit formal höherem Bildungsabschluss an, im gleichen Zeitraum vorzulesen. Einen großen Einfluss hat auch das Fehlen von Vorleseritualen in der Kindheit der Eltern. Wenn ihnen nicht vorgelesen wurde, haben sie seltener Bücher zu Hause, nutzen seltener Orte wie Bibliotheken, um sich Bücher auszuleihen, und können auch keine Geschichten weitergeben, die sie geprägt haben.
„Beim Lesen nimmt man die Spannung und die Gefühle des Gegenübers wahr. Über dieses Ritual kommuniziert man miteinander.“ André Gatzke
Ein vereinfachter Zugang zu Vorlesematerialien wie Büchern oder auch elektronischen Angeboten oder Apps wäre ein erster Schritt, um dieses Defizit zu beheben. Kitas und Schulen können hier als Anlaufstellen dienen. Hier setzt auch LeseWelten mit ihren freiwilligen Vorleser:innen an. Gerade in Stadtteilen mit erhöhtem Entwicklungspotenzial will LeseWelten Kindern in Kitas, Grundschulen, Stadtteilbibliotheken, Unterkünften für Geflüchtete oder auch Museen den Zugang zum Lesen und zu Büchern ermöglichen und so langfristig erreichen, dass jedem Kind in Köln regelmäßig vorgelesen wird. Die Vorlesestunden regen zudem den Dialog mit den Kindern an. Wie wichtig diese Interaktion ist, kann André Gatzke aus seiner Erfahrung als Vorleser bestätigen: „Beim Lesen nimmt man die Spannung und die Gefühle des Gegenübers wahr. Über dieses Ritual kommuniziert man miteinander. Das müssen nicht unbedingt die Eltern sein, das können auch unsere Vorlesenden sein.“
Auch die Eigeninitiative der Kinder hat ein großes Potenzial, Vorleserituale mit den Eltern anzustoßen. Denn wenn Kinder merken, dass sie in diesem Bereich zu kurz kommen, fordern sie dies aktiv von ihren Eltern ein – vor allem von denen, die selbst keine Vorleseerfahrung haben. Laut Vorlesemonitor initiieren diese Kinder in 50 Prozent der Fälle die Vorleserituale in der Familie selbst. Ausgelöst wird diese Eigeninitiative wiederum durch Spaß am Lesen und positive Erfahrungen mit engagierten Vorleser:innen in Einrichtungen wie Kitas oder Bibliotheken. An diesen Orten ist LeseWelten im Kölner Stadtgebiet auch flächendeckend vertreten. Wie bedeutend sich das Vorlesen für die Kinder anfühlt, wenn jemand von außen kommt, weiß auch André Gatzke: „Die Kinder merken, dass wir nur da sind, um ihnen vorzulesen. Und sie werden nach ihrer Meinung gefragt, was sie lesen möchten oder wie sie die Geschichten finden. Das ist schon etwas Besonderes.“
Die Statistiken des Vorlesemonitors und die Erfahrungen von LeseWelten zeigen, dass die besorgniserregend niedrigen Zahlen durch viele kleine Impulse gesteigert werden können. Sei es durch die Arbeit der Vorleserinnen und Vorleser, durch einen stärkeren Hinweis auf Ausleihsysteme in Schulen, Kitas und Bibliotheken, durch digitale Angebote wie E-Books oder auch ganz „altmodisch“ durch Buchgeschenke. Das Vorlesen in den Alltag der Kinder zu integrieren, ist nicht nur Aufgabe der Eltern. So lautet auch das Fazit des Vorlesemonitors. Es muss in allen Bereichen stattfinden, in denen Kinder betreut werden und aufwachsen. Denn wenn die Begeisterung für das Lesen die Fantasie der Kinder beflügelt, ist das ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft.
Quelle für Statistik Vorlesemonitor 2023 von Stiftung Lesen
Ich finde es wichtig, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, an einer Vorlesestunde teilzunehmen.
Charlotte „Charly“ Wulff (27) engagiert sich als Vorleserin bei LeseWelten in einer Kita in Lindenthal
„Fantasie, der Glaube an Magie und unendliche Möglichkeiten – das liebe ich an Kindern. Als Wappentier für diese Werte habe ich das Einhorn gewählt. Es kommt nicht nur in den Büchern vor, die ich vorlese. Ich habe auch ein Einhorn aus Plüsch, das ich zu jeder Vorlesestunde mitbringe. Es kann leuchten und die Flügel bewegen. Seit einem Jahr lese ich regelmäßig in einer Kita in Lindenthal vor. Dazu motiviert haben mich die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, mit denen ich mich beruflich intensiv beschäftigt habe. Das vierte Ziel ist hochwertige Bildung, die man auch durch sein Engagement als Vorleser:in fördern kann. Als ich das gelesen habe, habe ich mich sofort zu einer Infoveranstaltung bei LeseWelten angemeldet.
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Ich versuche immer, aktuelle Themen in die Vorlesestunde einzubauen. Neulich habe ich ein Buch über Müll mitgebracht. Dazu hatte ich auch Plastik und anderen Abfall dabei und wir haben den Müll gemeinsam im Raum verteilt und wieder eingesammelt. Themen wie Nachhaltigkeit sind für die Kinder noch etwas abstrakt, aber man kann nicht früh genug damit anfangen.
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Die Verbindung zwischen dem Wort und dem gezeichneten Bild finde ich in den Büchern toll. Denn so haben wir alle lesen gelernt, indem wir uns kurze Texte mit vielen Bildern angeschaut haben. Mit zunehmendem Lesefortschritt werden die Bilder immer weniger, bis sie ganz verschwinden. Es ist wichtig, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, an einer Vorlesestunde teilzunehmen – denn viel zu wenigen wird heute überhaupt noch zu Hause vorgelesen. Dadurch nimmt auch die Lesefähigkeit ab.
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Am Ende der Vorlesestunde mache ich immer mit den Kindern und dem Einhorn ein kleines Ritual, das von einem Buch inspiriert ist. Darin verwandelt ein Einhorn ein normales Pferd auch in ein Einhorn, indem es sein Horn an die Stirn des Tieres hält und einen Zauberspruch sagt. Das spiele ich mit den Kindern nach, darauf freuen sie sich besonders. Die Kinder merken, dass ich mir extra Zeit für sie nehme und empfinden das als etwas Besonderes. Aber auch mir geben die Vorlesestunden immer viel Kraft. Ich wünsche mir, dass die Kinder dadurch die Freude an Geschichten lernen und ihr Entdeckergeist geweckt wird. Und hoffentlich wächst auch ihr Wunsch, schnell selbst lesen zu lernen.“
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Da ist mir bewusst geworden, dass ein ganz alltägliches Thema wie Züge für die Kinder sehr emotional besetzt sein kann.
Gundolf Schneider (34) engagiert sich als Vorleser bei LeseWelten in einer Unterkunft für Geflüchtete
„In Deutschland hat das Elternhaus immer noch einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes. Es kann darüber entscheiden, ob man später studiert, eine Ausbildung macht oder vielleicht auch gar kein Erfolg im Berufsleben hat. In meinem Studium habe ich mich viel mit sozialer Ungleichheit und den dazugehörigen Herkunftseffekten innerhalb der Familie auseinandergesetzt. Das war auch ein Teil meiner Motivation, mich ehrenamtlich als Vorleser in einer Unterkunft für Geflüchtete zu engagieren. Ich hoffe, dass ich durch das Vorlesen die Kinder ein Stück weit auf die Schule vorbereiten und ihr Interesse am Lesen wecken kann.
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Seit September 2023 lese ich in einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Koblenzer Straße in Köln vor. Wir sind meistens ein Team aus zwei bis drei Vorleser:innen und betreuen eine Gruppe von Kindern aus der Ukraine, Rumänien und Bulgarien. Ich lese am Anfang der Stunde ein wenig vor, dann unterhalten wir uns über die Geschichte. Kürzlich habe ich ein Buch über die Essensgewohnheiten aus der ganzen Welt mitgebracht. Ich habe die Kinder dann gefragt: Was esst ihr eigentlich am liebsten? Im Endeffekt geht es bei unseren Vorlesestunden darum, Gespräche zu initiieren. Die größte Herausforderung ist, die Aufmerksamkeit der Kinder zu halten. Manchmal gibt es Tage, da sind sie sehr unruhig. Dann beenden wir die Stunde immer mit einem Spiel wie Mikado oder Memory.
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In der Unterkunft werden wir auch immer wieder mit den Schicksalen der Kinder konfrontiert. Einmal habe ich ein Buch über Züge mitgebracht und wir haben uns Bilder mit Güterzügen, dem Schaffner und Bahnhöfen angeschaut. Einer der ukrainischen Jungs hat dann erzählt, dass er auch schon mal Zug gefahren ist: von Kiew nach Frankfurt. Da ist mir bewusst geworden, dass ein ganz alltägliches Thema wie Züge für die Kinder sehr emotional besetzt sein kann. Sie kommen teilweise aus Kriegsgebieten und mussten fliehen. Das war ein sehr intensiver Moment für uns Vorleser:innen.
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Besonders bedeutend an dem Engagement bei LeseWelten finde ich, dass man einem jungen Menschen in einem entscheidenden Abschnitt seines Lebens helfen kann. Es ist eine wundervolle Arbeit, die manchmal etwas irre und auch total lustig ist. Wir lachen sehr viel gemeinsam. Aber ich habe immer im Hinterkopf, wie sehr die Vorlesestunden die Kinder dabei unterstützen können, in der Schule erfolgreich zu sein und dadurch eine bessere Zukunftsperspektive zu haben.“
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Ich finde es schön, wie unterschiedlich die Vorstellungen und Fantasien der Kinder sind und wie sie auf die Geschichten reagieren.
Robert Reh (66) engagiert sich als Vorleser bei LeseWelten in einer Kita in Bickendorf und Kalk
„Als ich vor zwei Jahren in Rente gegangen bin, wollte ich mich ehrenamtlich engagieren. Eigentlich hatte ich überlegt, etwas mit alten Menschen zu machen, aber dann überwog der Wunsch, mit Kindern zu arbeiten. So bin ich zum ‚Leseopa‘ bei LeseWelten geworden. Jede Woche lese ich im Wechsel in einer Kita in Köln-Bickendorf und in Köln-Kalk vor. Ich möchte Kindern die Liebe zu Büchern weitergeben. Besonders Kinderbücher mag ich sehr, die kaufe ich mir auch manchmal privat. Während meiner Vorlesestunde will ich die Fantasien und Emotionen vermitteln, die durch die Bücher erzeugt werden. Die Geschichten sollen erlebbar werden.
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In Bickendorf habe ich länger Zeit, dort lese ich mehrere Bücher vor. In der Kita in Kalk lese ich immer nur eine Geschichte. Ich habe festgestellt, dass es eigentlich besser ist, sich nur mit einem Buch zu beschäftigen. Ich lese, wir sprechen darüber, und manchmal malen die Kinder Bilder dazu. Die Kitaleitung hängt auch das Buchcover aus, so können sich die Kinder länger mit der Geschichte auseinandersetzen, das finde ich gut.
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In der Lesestunde herrscht eine fröhliche und entspannte Atmosphäre. Den Kindern macht es Spaß, sie lachen oft und stellen Fragen. Aber auch ich nehme viel mit. Ich finde es schön, wie unterschiedlich die Vorstellungen und Fantasien der Kinder sind und wie sie auf die Geschichten reagieren. Auch die vielen Fragen der Kinder sind nicht nur für sie, sondern auch für mich bereichernd. Und ich habe genauso viel Spaß an den Geschichten wie die Kinder.
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Anfangs habe ich zur Stunde immer mehrere Bücher mitgebracht und gefragt, welches ich vorlesen soll? Dann haben die Kinder erstmal in den Büchern geblättert und es hat etwas gedauert, bis ich anfangen konnte. Inzwischen weiß ich, dass es besser ist, wenn ich das vorgebe und ein konkretes Buch in der Hand habe.
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Lustige Geschichten kommen am besten an. Oder auch Bücher mit einem überraschenden Ende. Zum Beispiel „Gleich hab ich dich“. Die Geschichte spielt im Dschungel und erzählt von der Angst aller Tiere vor einer unheimlichen Stimme. Sogar der Löwe rennt panisch davon. Am Ende stellt sich heraus, dass die Stimme einer kleinen Maus gehört, die Verstecken spielt. Ich lese gern humorvolle Geschichten vor. Außerdem versuche ich, Bücher zu finden, die divers sind und sich mit anderen Kulturen beschäftigen. Denn auch die Kinder haben einen diversen Hintergrund. Mein Plan ist es, mich in Zukunft auch als Lesementor zu engagieren. Das ist eine Eins-zu-eins-Patenschaft für ein Kind im Grundschulalter. Mir ist es wichtig zu vermitteln, was Bücher alles ermöglichen können.“
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Elke Heidenreich
Anne Burgmer
Elke Heidenreich ist eine der bekanntesten und einflussreichsten Literaturkritikerinnen Deutschlands. Anne Burgmer ist leitende Kulturredakteurin und seit 2015 im Vorstand der Kölner Freiwilligen Agentur – in dieser Funktion ist sie auch für LeseWelten zuständig. Gemeinsam sprechen die beiden über die Liebe zu Büchern und wie das Lesen Leben retten kann.
Anne Burgmer Liebe Elke, kannst du dich noch an deine ersten Leseerlebnisse erinnern? Bei mir begann die Liebe zu Büchern, als ich mit sechs Jahren für vier Wochen im Krankenhaus lag. Ich hatte einige Wirbel gebrochen und durfte mich nicht bewegen. Handys und Tablets gab es damals noch nicht. Also habe ich alle Bücher, die ich geschenkt bekam, verschlungen. Und seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen.
Elke Heidenreich Bei mir war es ähnlich. Meine Mutter hat mir vorgelesen, als ich klein war. Sie hat mich sehr früh an Bücher herangeführt. Ich konnte schon lesen, als ich 1949 eingeschult wurde. Meine Eltern waren beide berufstätig, Deutschland musste ja wieder aufgebaut werden, und ich war den ganzen Tag allein. Zum Teil hat meine Mutter mir die Bücher gekauft oder ich habe sie geschenkt bekommen. Ich hatte auch eine Karte für die Leihbücherei in unserem Stadtteil und durfte mir da immer fünf Bücher pro Woche leihen und später auch zehn, weil sie gesehen haben, wieviel ich lese. Meine Eltern kamen erst abends wieder. Ich saß vor einem Spiegel und habe mir selbst die Bücher vorgelesen, damit ich eine Stimme hörte. Da habe ich so schön lesen gelernt.
AB Ich hatte eine sehr schöne, behütete Kindheit. Bücher haben mich immer begleitet, weil ich es geliebt habe, in fremde Welten einzutauchen. Für dich hatten sie noch eine größere Bedeutung, oder?
EH Mich hat das Lesen gerettet. Meine Kindheit war nicht glücklich, weil meine Eltern nicht glücklich waren, und das überträgt sich auf ein Kind. Wir waren arm. Die Bücher haben mich immer weggeführt in andere Welten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das lesende Kind am Anfang das pflegeleichte Kind ist, weil es so brav in der Ecke sitzt. Aber spätestens in der Pubertät wird es das schwierige Kind, weil man sich gründlich aus seiner Umgebung weg liest. Die Bücher haben mir gezeigt, dass es eine andere Welt gibt als mein Elternhaus –, dass man anders leben kann. Sie haben mich zu eigenen Meinungen erzogen und zu Widerworten. Das war nicht ganz einfach für meine Mutter.
AB Mich haben vor allem die Bücher von Astrid Lindgren sehr geprägt. Ich habe ihre Mädchenfiguren geliebt, vor allem Ronja Räubertochter, die war so furchtlos und wild. So wollte ich auch sein. Das Buch habe ich heimlich unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe gelesen, als ich eigentlich schlafen sollte. Welche Bücher haben dich geprägt?
EH „Dr. Dolittle und seine Tiere“ habe ich sehr geliebt. Später habe ich recherchiert und erfahren, dass der Autor Hugh Lofting eigentlich Ingenieur war. Er wurde aus England in den Ersten Weltkrieg geschickt und versprach seinen Kindern, ihnen täglich zu schreiben, was er erlebt. Aber dieser Krieg war so grauenhaft, dass er das Kindern nicht schreiben konnte. Also schrieb er über Tiere, weil er sah, wie die Pferde im Krieg verreckten, für die setzte sich niemand ein. Er hat diesen gütigen Doktor erfunden, der den Tieren hilft. Und er hat seinen Kindern immer Briefe geschrieben, was Dr. Dolitte wieder macht. Aber ich habe auch die Klassiker gelesen: Märchen, Heldensagen, die Sagen des klassischen Altertums. „Die Häschenschule“, „Der Trotzkopf“, „Nesthäkchen“ und „Heidi“ natürlich.
„Mich hat das Lesen gerettet.“ Elke Heidenreich
AB Fast alle Menschen, die gerne und viel lesen, erzählen, dass sie damit als Kind begonnen haben. Bei dir war es so, bei mir auch. Glaubst du, dass man das Lesen in der Kindheit lernen muss?
EH Es ist wichtig, dass man als Kind schon eine Beziehung zur Sprache bekommt. Auch dass Eltern mit einem Kind sprechen, singen, Gedichte aufsagen. Kinder haben Zugang zur Sprache und man weiß, dass Kinder, mit denen die Eltern reden und denen sie vorlesen, einen viel größeren Wortschatz haben als Kinder, bei denen das nicht passiert. Sie bilden früher Sätze und diese sind länger und komplexer. Sie haben ein anderes Verhältnis zur Sprache, und das ist fürs Leben unendlich wichtig.
„Man muss sich, wenn man liest, in fremde Menschen mit fremden Geschichten hineinversetzen.“ Anne Burgmer
AB Das stimmt. Das hat die jüngste Pisa-Studie ja auch wieder gezeigt. Wenn kein Textverständnis da ist, kann man auch die Aufgaben in anderen Fächern nicht lösen.
EH Ja, mit Sprache fängt alles an. Man muss sie verstehen. Lesen ist eine lebenswichtige Sache, so wie Schwimmen lernen. Man darf das nicht unterschätzen. Man sollte Kinder so früh wie möglich an das Lesen heranführen. Lesen ist kein Luxus und kein Unterhaltungskrempel. Es ist eine lebens- und charakterformende Tätigkeit. Da gibt es große Defizite. Es ist schwer, da später noch reinzurutschen. Und heute, wo es Handys und Tablets gibt, die ablenken, habe ich große Bedenken, ob es funktioniert, später noch mit dem Lesen anzufangen.
AB Initiativen wie LeseWelten sind ja gerade deshalb so wichtig, weil sie Kindern zeigen, wie toll Lesen und Vorlesen ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder, wenn man ihnen ein Buch vorliest, das sie mögen, stundenlang sehr konzen-triert zuhören und plötzlich gar nicht mehr mit dem Tablet spielen wollen. Und ich hoffe und glaube, dass ihnen diese Erfahrung hilft, dann auch selbst zu lesen, wenn sie alt genug sind. Du hast auch schon oft vor Kindern gelesen. Und da kommen doch bestimmt auch Eltern zu dir, die fragen, wie sie ihre Kinder fürs Lesen begeistern können. Was sagst du denen?
EH Ich erlebe es oft, dass Eltern zu mir sagen: „Meine Kinder lesen leider nicht.“ Dann frage ich sie: „Lesen Sie denn?“ Und sie antworten: „Dafür fehlt mir die Zeit.“ Kinder machen alles nach, weil sie die Welt noch nicht kennen, beobachten sie genau. Wenn Kinder sehen, wie ihre Mutter oder ihr Vater in einem Buch versinkt, machen sie auch das nach. Man muss das fördern.
AB Beim Lesen ist das Stichwort Empathie sehr, sehr wichtig. Man muss sich, wenn man liest, in fremde Menschen mit fremden Geschichten hineinversetzen. Man nimmt deren Perspektive ein, und plötzlich versteht man sie viel besser. Und genau diese Fähigkeit fehlt doch heute in unserer aufgeheizten Debattenkultur so vielen Menschen.
EH Es ist wichtig, dass sich das entwickelt. Man sieht ja Kinder beim Fernsehen weinen. Wenn ein Dinosaurier stirbt, sind sie traurig. Sie haben eine große Fähigkeit zur Empathie. Die geht im Laufe der Zeit verloren, aber durch Bücher kann man die Welt kennenlernen und das Leben anderer Menschen. Das fördert Empathie.
AB Was macht denn für dich ein gutes Kinderbuch aus? Astrid Lindgren hat gesagt, sie schreibe für das Kind in sich. Es gehe ihr nicht darum, dass Erwachsene ihre Bücher mögen, sondern Kinder. Ich finde, das merkt man ihren Büchern an. Alle Kinderbücher, die mir gefallen, nehmen Kinder ernst und wollen sie nicht belehren.
EH Genau. Enid Blyton hat mal gesagt, Kritik von Menschen über zwölf interessiere sie nicht. Ein gutes Kinderbuch macht genau das aus, was auch ein gutes Buch für Erwachsene ausmacht: eine gute Geschichte und Sprache. Wenn dir keine Geschichte einfällt, dann nützt die beste Sprache nichts. Und wenn du eine gute Geschichte hast, sie aber nicht erzählen kannst, bist du langweilig. Das muss immer zusammenkommen.
AB Du hast vorhin den schönen Satz gesagt, das Lesen habe dich gerettet. So weit würde ich bei mir nicht gehen, aber das Lesen hat meinen Lebensweg entscheidend beeinflusst. Ich habe unter anderem Germanistik studiert und mir einen Beruf ausgesucht, in dem ich das große Privileg habe, lesen zu dürfen. Bei dir ist es genauso.
EH Ja, Bücher haben mir immer gezeigt: Du musst vorwärts gehen. Es gibt etwas anderes, es gibt mehr als das, was du von zu Hause kennst. Letztlich wurden die Bücher dann mein Beruf, mein Leben und meine Liebe – und es war alles richtig.
„Bücher haben mir immer gezeigt: Du musst vorwärts gehen. Es gibt etwas anderes, es gibt mehr als das, was du von zu Hause kennst.“ Elke Heidenreich
Fotos Michael Bause, Thilo Schmülgen
EINE LESereiSe Um diE WeLt
Die Kinderbuchautorin und Geschichtenerzählerin Andrea Karimé ist die neue Schirmherrin von LeseWelten. Sie weiß genau, welche Kraft Worte haben und wie wichtig Fantasie für die Entwicklung von Kindern ist. Andrea Karimé wuchs mit einer deutschen Mutter und einem libanesischen Vater auf. „In unserer Wohnung klang es geheimnisvoll nach Wörtern und Sprachen“, erinnert sie sich. Heute nutzt sie diese Erfahrung, um mit ihrer „Leibspeise“, den Wörtern, magische Welten zu erschaffen. Ihre liebsten Kinderbücher aus verschiedenen Kulturen und Welten erzählen von Freundschaft, Mut und Selbstvertrauen und laden Kinder ab vier Jahren auf eine fantasievolle Reise ein – auch in sich selbst.
„Mein neuer Freund, der Mond“
Walid Taher
Zweisprachig Arabisch-Deutsch
Edition Orient
Ein kleiner Junge entdeckt etwas sehr Geheimnisvolles, als er am Abend mit dem Fahrrad seines Onkels nach Hause fährt: Der Mond ist immer genau da, wo er ist. In jeder Straße, auf jedem Platz. Der Mond kommt zu ihm nach Hause und sogar in sein Zimmer, wenn er das Rollo oben lässt. Der Junge beschließt begeistert, sich mit dem Mond anzufreunden… Der ägyptische Autor Walid Taher erzählt poetisch und mit leisem Humor von der besonderen Weisheit der Kinder. Geschichte und leichtfüßige Buntstift-Illustrationen regen Kinder zum Nachdenken, Fantasieren und Fragen stellen an.
„Dikum dakum“
Ibrahima Ndiaye
Im Selfpublishing erschienen
ibrahima-ndiaya.de
Eine Dürre erfasst eine Tiergemeinschaft in der Savanne. Die Tiere bitten eine alte weise Frau um Hilfe. Die schenkt ihnen einen Zauberspruch. Doch der ist so lang, kein Tier kann ihn sich merken. Aber dann haben Sie eine Idee. Jedes einzelne Tier merkt sich nur einen kleinen Teil… Ein vielschichtiges, spannendes Tiermärchen voller Weisheit. Der klangfeine und geheimnisvolle Zauberspruch „Dikum dakum lakum dinikum, fankum fankum bibi saya“ trägt durch die ganze Geschichte. Er enthält Versatzstücke aus zwei von vielen Sprachen des senegalesisch-deutschen Autors Ibrahima Ndiaye, Arabisch und Malinke, und besingt die Kraft der Gemeinschaft.
„Trommeltraumgirl“
Margarita Engle, Raffael Lopez
Gratitude Verlag
Ein Mädchen, sie nennt sich „Trommeltraumgirl“, will unbedingt trommeln lernen. Gegen alle Widerstände folgt sie diesem Wunsch, bis er am Ende in Erfüllung geht. Kinder gleiten in feinem Sprachrhythmus in diese in leicht schwebenden kurzen Versen geschrieben Geschichte, und sie träumen sich durch wunderschöne Bildräume, in die Sonne und Mond freundlich hineinlächeln und die viel Platz für die Fantasie der Kinder zur Verfügung stellen. Eine Geschichte über Mut und Selbstvertrauen, inspiriert durch das Leben „des chinesisch-afrikanisch-kubanischen Mädchens Millo Castro Zaldarriaga.“
„Ein Tag im Schnee“
Ezra Jack Keats
Carl Auer Verlag
Als Peter morgens aufwacht, ist seine ganze Welt vor dem Haus voller Schnee. Das Wunder wird mit allen Sinnen untersucht. Da knirscht was, da kühlt was und da sind überall Spuren. Den ganzen Tag verbringt Peter im Schnee und formt am Abend einen Ball zum Mitnehmen. Der wundersame Kinderbuchklassiker des US-amerikanischen, jüdischen Autors Ezra Jack Keats erzählt unaufgeregt und in glasklar formulierten Sätzen von den Wundern der Natur. Er lädt Kinder sowohl zum Verweilen auf den wunderschön mit Collagen illustrierten Seiten ein, als auch zum Umherstreifen in den Schnee-Gedanken des Kindes.
„Ein großer Freund“
Babak Saberi, Mehrdad Zaeri
Baobab Verlag
Das Rabenkind hat einen neuen Freund. Die Mutter hat Bedenken. Ist ein Elefant nicht ein wenig zu groß? Aber das Rabenkind sieht das ganz anders und hat kinderkluge Argumente. Wenn es etwas tiefer fliegt, ist das Rabenkind doch genauso groß. Außerdem sind doch sogar die Schatten gleich groß, und Elefantisch muss es auch nicht können. Zeichen und Gesten genügen. Die zauberhafte, schelmische Freundschaftsgeschichte des persischen Kinder buchautors Babak Saberi erzählt von Gemeinsamkeiten und Verschiedensein und von der Kraft der Kinder, Vorgegebenes auf den Prüfstand zu stellen. Meisterhaft macht auch der iranisch-deutsche Illustrator Mehrdad Zaeri vielen Ebenen der Geschichte sichtbar: durch Collagen, Schattenrisse, mit Schraffurtechniken und Buntstiftzeichnungen.
Vor allem eines können Kinder viel besser als Erwachsene: ihrer Fantasie freien Lauf lassen. Die Vorstellungskraft in jungen Jahren kann stärker sein als die Realität und hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung. Gerade das Lesen und Vorlesen eröffnet fantastische Welten, die so individuell sind wie jedes Kind und so wichtig für seine sozialen und kognitiven Fähigkeiten. Das zeigen auch die KI-generierten Bilder auf den folgenden Seiten, die nach Beschreibungen der Lieblingsgeschichten und -figuren von Kindern unterschiedlichen Alters entstanden sind. Es hat fatale Folgen, wenn kleinen Kindern nicht vorgelesen wird und sie dadurch später keinen Zugang zu Büchern finden. Deshalb engagieren sich die Vorleser:innen, Schirmherr:innen und das Organisationsteam von LeseWelten seit 20 Jahren ehrenamtlich für Bildung, mehr Chancengleichheit und den Spaß am Lesen – und sorgen so auch für eine bessere Gesellschaft von morgen.
Vorlesen wird oft als selbstverständlich angesehen. Dabei wird dieses Ritual zwischen Eltern und Kindern viel zu oft vernachlässigt. Ein besorgniserregender Zustand, denn das Vorlesen ist für die Zukunftschancen der Kinder enorm wichtig.
der ein- bis achtjährigen Kinder wird selten oder nie vorgelesen.
der Kinder ergreifen in Haushalten, in denen selten vorgelesen wird, selbst die Initiative zum Vorlesen.
der Eltern, die sich an Geschichten aus ihrer Kindheit erinnern können, geben diese auch weiter.
der deutschen Haushalte besitzen nicht mehr als zehn Kinderbücher.
Lässt man der Fantasie eines Kindes freien Laufen, sind ihr keine Grenzen gesetzt. Alles erscheint möglich, alles kann Begeisterung auslösen. Doch damit sich diese Einbildungskraft richtig entfalten kann, braucht es Unterstützung. Wichtig ist das regelmäßige Lesen oder bei Vorschulkindern vor allem das Vorlesen. Die Stiftung Lesen veröffentlicht jährlich einen Vorlesemonitor, der analysiert, wie viel Kindern zwischen einem und acht Jahren in Deutschland vorgelesen wird. Im Jahr 2023 gaben 36,5 Prozent der befragten Eltern an, selten oder nie vorzulesen – eine erschreckende Statistik.
In der UN-Kinderrechtskonvention ist das Recht auf Bildung verankert, dazu gehört auch die Beseitigung von Unwissenheit und Analphabetismus – und (Vor)Lesen gilt als starke Präventionsmaßnahme. Auch André Gatzke, der sich seit 2014 als Vorlese-Botschafter für LeseWelten engagiert, ist erschrocken über die rückläufigen Zahlen: „Wenn Kindern heute nicht vorgelesen wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie ihren Kindern auch nicht vorlesen. Dadurch fehlt ihnen der Wortschatz und die Fantasie. Das führt zu mangelnder Bildung”, sagt der TV-Moderator, den viele aus Serien wie „Die Sendung mit der Maus“, „2 durch Deutschland“ oder „Die Sendung mit dem Elefanten“ kennen.
Im Jahr 2023 gaben 36,5 Prozent der befragten Eltern an, selten oder nie vorzulesen – eine erschreckende Statistik.
Gerade dieses generationenübergreifende Lesen und Vorlesen ist sehr wichtig. Es fördert nicht nur die Begeisterung der Kinder für Bücher, sondern schafft auch eine Bindung zu den Eltern und legt den Grundstein für das spätere Vorleseritual mit den eigenen Kindern. Der Vorlesemonitor von Stiftung Lesen zeigt ebenfalls, wie stark das Vorlesen jede einzelne Person und die Gesellschaft prägt. Vor allem die Bildungsgerechtigkeit wird dadurch gefördert. Finden diese regelmäßigen Leserituale mit den Eltern nicht statt, kann dies zu einer verzögerten Sprachentwicklung, Aufmerksamkeitsproblemen und geringeren kognitiven Fähigkeiten führen. Insgesamt sinkt das Interesse an Bildung und Büchern enorm. Dabei geht es nicht nur um bessere Bildungschancen: Durch das Lesen lernen Kinder, besser mit Gefühlen umzugehen und komplexe Zusammenhänge zu verstehen. Fehlen diese Impulse durch das (Vor-)Lesen, kann das negativen Einfluss auf die Entwicklung von Empathie, Fantasie, Kreativität und sozialer Kompetenz haben.
Das Bildungsniveau der Eltern spielt eine wichtige Rolle für die Vorleserituale, die sie an ihre Kinder weitergeben. Laut Vorlesemonitor lesen nur 29 Prozent der Eltern mit formal niedriger Bildung ihren Kindern mehrmals pro Woche vor. Im Vergleich dazu geben 40 Prozent der Eltern mit formal höherem Bildungsabschluss an, im gleichen Zeitraum vorzulesen. Einen großen Einfluss hat auch das Fehlen von Vorleseritualen in der Kindheit der Eltern. Wenn ihnen nicht vorgelesen wurde, haben sie seltener Bücher zu Hause, nutzen seltener Orte wie Bibliotheken, um sich Bücher auszuleihen, und können auch keine Geschichten weitergeben, die sie geprägt haben.
„Beim Lesen nimmt man die Spannung und die Gefühle des Gegenübers wahr. Über dieses Ritual kommuniziert man miteinander.“ André Gatzke
Ein vereinfachter Zugang zu Vorlesematerialien wie Büchern oder auch elektronischen Angeboten oder Apps wäre ein erster Schritt, um dieses Defizit zu beheben. Kitas und Schulen können hier als Anlaufstellen dienen. Hier setzt auch LeseWelten mit ihren freiwilligen Vorleser:innen an. Gerade in Stadtteilen mit erhöhtem Entwicklungspotenzial will LeseWelten Kindern in Kitas, Grundschulen, Stadtteilbibliotheken, Unterkünften für Geflüchtete oder auch Museen den Zugang zum Lesen und zu Büchern ermöglichen und so langfristig erreichen, dass jedem Kind in Köln regelmäßig vorgelesen wird. Die Vorlesestunden regen zudem den Dialog mit den Kindern an. Wie wichtig diese Interaktion ist, kann André Gatzke aus seiner Erfahrung als Vorleser bestätigen: „Beim Lesen nimmt man die Spannung und die Gefühle des Gegenübers wahr. Über dieses Ritual kommuniziert man miteinander. Das müssen nicht unbedingt die Eltern sein, das können auch unsere Vorlesenden sein.“
Auch die Eigeninitiative der Kinder hat ein großes Potenzial, Vorleserituale mit den Eltern anzustoßen. Denn wenn Kinder merken, dass sie in diesem Bereich zu kurz kommen, fordern sie dies aktiv von ihren Eltern ein – vor allem von denen, die selbst keine Vorleseerfahrung haben. Laut Vorlesemonitor initiieren diese Kinder in 50 Prozent der Fälle die Vorleserituale in der Familie selbst. Ausgelöst wird diese Eigeninitiative wiederum durch Spaß am Lesen und positive Erfahrungen mit engagierten Vorleser:innen in Einrichtungen wie Kitas oder Bibliotheken. An diesen Orten ist LeseWelten im Kölner Stadtgebiet auch flächendeckend vertreten. Wie bedeutend sich das Vorlesen für die Kinder anfühlt, wenn jemand von außen kommt, weiß auch André Gatzke: „Die Kinder merken, dass wir nur da sind, um ihnen vorzulesen. Und sie werden nach ihrer Meinung gefragt, was sie lesen möchten oder wie sie die Geschichten finden. Das ist schon etwas Besonderes.“
Die Statistiken des Vorlesemonitors und die Erfahrungen von LeseWelten zeigen, dass die besorgniserregend niedrigen Zahlen durch viele kleine Impulse gesteigert werden können. Sei es durch die Arbeit der Vorleserinnen und Vorleser, durch einen stärkeren Hinweis auf Ausleihsysteme in Schulen, Kitas und Bibliotheken, durch digitale Angebote wie E-Books oder auch ganz „altmodisch“ durch Buchgeschenke. Das Vorlesen in den Alltag der Kinder zu integrieren, ist nicht nur Aufgabe der Eltern. So lautet auch das Fazit des Vorlesemonitors. Es muss in allen Bereichen stattfinden, in denen Kinder betreut werden und aufwachsen. Denn wenn die Begeisterung für das Lesen die Fantasie der Kinder beflügelt, ist das ein Gewinn für die gesamte Gesellschaft.
Quelle für Statistik Vorlesemonitor 2023 von Stiftung Lesen
Ich finde es wichtig, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, an einer Vorlesestunde teilzunehmen.
Charlotte „Charly“ Wulff (27) engagiert sich als Vorleserin bei LeseWelten in einer Kita in Lindenthal
„Fantasie, der Glaube an Magie und unendliche Möglichkeiten – das liebe ich an Kindern. Als Wappentier für diese Werte habe ich das Einhorn gewählt. Es kommt nicht nur in den Büchern vor, die ich vorlese. Ich habe auch ein Einhorn aus Plüsch, das ich zu jeder Vorlesestunde mitbringe. Es kann leuchten und die Flügel bewegen. Seit einem Jahr lese ich regelmäßig in einer Kita in Lindenthal vor. Dazu motiviert haben mich die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, mit denen ich mich beruflich intensiv beschäftigt habe. Das vierte Ziel ist hochwertige Bildung, die man auch durch sein Engagement als Vorleser:in fördern kann. Als ich das gelesen habe, habe ich mich sofort zu einer Infoveranstaltung bei LeseWelten angemeldet.
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Ich versuche immer, aktuelle Themen in die Vorlesestunde einzubauen. Neulich habe ich ein Buch über Müll mitgebracht. Dazu hatte ich auch Plastik und anderen Abfall dabei und wir haben den Müll gemeinsam im Raum verteilt und wieder eingesammelt. Themen wie Nachhaltigkeit sind für die Kinder noch etwas abstrakt, aber man kann nicht früh genug damit anfangen.
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Die Verbindung zwischen dem Wort und dem gezeichneten Bild finde ich in den Büchern toll. Denn so haben wir alle lesen gelernt, indem wir uns kurze Texte mit vielen Bildern angeschaut haben. Mit zunehmendem Lesefortschritt werden die Bilder immer weniger, bis sie ganz verschwinden. Es ist wichtig, dass alle Kinder die Möglichkeit haben, an einer Vorlesestunde teilzunehmen – denn viel zu wenigen wird heute überhaupt noch zu Hause vorgelesen. Dadurch nimmt auch die Lesefähigkeit ab.
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Am Ende der Vorlesestunde mache ich immer mit den Kindern und dem Einhorn ein kleines Ritual, das von einem Buch inspiriert ist. Darin verwandelt ein Einhorn ein normales Pferd auch in ein Einhorn, indem es sein Horn an die Stirn des Tieres hält und einen Zauberspruch sagt. Das spiele ich mit den Kindern nach, darauf freuen sie sich besonders. Die Kinder merken, dass ich mir extra Zeit für sie nehme und empfinden das als etwas Besonderes. Aber auch mir geben die Vorlesestunden immer viel Kraft. Ich wünsche mir, dass die Kinder dadurch die Freude an Geschichten lernen und ihr Entdeckergeist geweckt wird. Und hoffentlich wächst auch ihr Wunsch, schnell selbst lesen zu lernen.“
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Da ist mir bewusst geworden, dass ein ganz alltägliches Thema wie Züge für die Kinder sehr emotional besetzt sein kann.
Gundolf Schneider (34) engagiert sich als Vorleser bei LeseWelten in einer Unterkunft für Geflüchtete
„In Deutschland hat das Elternhaus immer noch einen sehr großen Einfluss auf die Entwicklung eines Kindes. Es kann darüber entscheiden, ob man später studiert, eine Ausbildung macht oder vielleicht auch gar kein Erfolg im Berufsleben hat. In meinem Studium habe ich mich viel mit sozialer Ungleichheit und den dazugehörigen Herkunftseffekten innerhalb der Familie auseinandergesetzt. Das war auch ein Teil meiner Motivation, mich ehrenamtlich als Vorleser in einer Unterkunft für Geflüchtete zu engagieren. Ich hoffe, dass ich durch das Vorlesen die Kinder ein Stück weit auf die Schule vorbereiten und ihr Interesse am Lesen wecken kann.
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Seit September 2023 lese ich in einer Erstaufnahmeeinrichtung in der Koblenzer Straße in Köln vor. Wir sind meistens ein Team aus zwei bis drei Vorleser:innen und betreuen eine Gruppe von Kindern aus der Ukraine, Rumänien und Bulgarien. Ich lese am Anfang der Stunde ein wenig vor, dann unterhalten wir uns über die Geschichte. Kürzlich habe ich ein Buch über die Essensgewohnheiten aus der ganzen Welt mitgebracht. Ich habe die Kinder dann gefragt: Was esst ihr eigentlich am liebsten? Im Endeffekt geht es bei unseren Vorlesestunden darum, Gespräche zu initiieren. Die größte Herausforderung ist, die Aufmerksamkeit der Kinder zu halten. Manchmal gibt es Tage, da sind sie sehr unruhig. Dann beenden wir die Stunde immer mit einem Spiel wie Mikado oder Memory.
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In der Unterkunft werden wir auch immer wieder mit den Schicksalen der Kinder konfrontiert. Einmal habe ich ein Buch über Züge mitgebracht und wir haben uns Bilder mit Güterzügen, dem Schaffner und Bahnhöfen angeschaut. Einer der ukrainischen Jungs hat dann erzählt, dass er auch schon mal Zug gefahren ist: von Kiew nach Frankfurt. Da ist mir bewusst geworden, dass ein ganz alltägliches Thema wie Züge für die Kinder sehr emotional besetzt sein kann. Sie kommen teilweise aus Kriegsgebieten und mussten fliehen. Das war ein sehr intensiver Moment für uns Vorleser:innen.
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Besonders bedeutend an dem Engagement bei LeseWelten finde ich, dass man einem jungen Menschen in einem entscheidenden Abschnitt seines Lebens helfen kann. Es ist eine wundervolle Arbeit, die manchmal etwas irre und auch total lustig ist. Wir lachen sehr viel gemeinsam. Aber ich habe immer im Hinterkopf, wie sehr die Vorlesestunden die Kinder dabei unterstützen können, in der Schule erfolgreich zu sein und dadurch eine bessere Zukunftsperspektive zu haben.“
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Ich finde es schön, wie unterschiedlich die Vorstellungen und Fantasien der Kinder sind und wie sie auf die Geschichten reagieren.
Robert Reh (66) engagiert sich als Vorleser bei LeseWelten in einer Kita in Bickendorf und Kalk
„Als ich vor zwei Jahren in Rente gegangen bin, wollte ich mich ehrenamtlich engagieren. Eigentlich hatte ich überlegt, etwas mit alten Menschen zu machen, aber dann überwog der Wunsch, mit Kindern zu arbeiten. So bin ich zum ‚Leseopa‘ bei LeseWelten geworden. Jede Woche lese ich im Wechsel in einer Kita in Köln-Bickendorf und in Köln-Kalk vor. Ich möchte Kindern die Liebe zu Büchern weitergeben. Besonders Kinderbücher mag ich sehr, die kaufe ich mir auch manchmal privat. Während meiner Vorlesestunde will ich die Fantasien und Emotionen vermitteln, die durch die Bücher erzeugt werden. Die Geschichten sollen erlebbar werden.
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In Bickendorf habe ich länger Zeit, dort lese ich mehrere Bücher vor. In der Kita in Kalk lese ich immer nur eine Geschichte. Ich habe festgestellt, dass es eigentlich besser ist, sich nur mit einem Buch zu beschäftigen. Ich lese, wir sprechen darüber, und manchmal malen die Kinder Bilder dazu. Die Kitaleitung hängt auch das Buchcover aus, so können sich die Kinder länger mit der Geschichte auseinandersetzen, das finde ich gut.
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In der Lesestunde herrscht eine fröhliche und entspannte Atmosphäre. Den Kindern macht es Spaß, sie lachen oft und stellen Fragen. Aber auch ich nehme viel mit. Ich finde es schön, wie unterschiedlich die Vorstellungen und Fantasien der Kinder sind und wie sie auf die Geschichten reagieren. Auch die vielen Fragen der Kinder sind nicht nur für sie, sondern auch für mich bereichernd. Und ich habe genauso viel Spaß an den Geschichten wie die Kinder.
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Anfangs habe ich zur Stunde immer mehrere Bücher mitgebracht und gefragt, welches ich vorlesen soll? Dann haben die Kinder erstmal in den Büchern geblättert und es hat etwas gedauert, bis ich anfangen konnte. Inzwischen weiß ich, dass es besser ist, wenn ich das vorgebe und ein konkretes Buch in der Hand habe.
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Lustige Geschichten kommen am besten an. Oder auch Bücher mit einem überraschenden Ende. Zum Beispiel „Gleich hab ich dich“. Die Geschichte spielt im Dschungel und erzählt von der Angst aller Tiere vor einer unheimlichen Stimme. Sogar der Löwe rennt panisch davon. Am Ende stellt sich heraus, dass die Stimme einer kleinen Maus gehört, die Verstecken spielt. Ich lese gern humorvolle Geschichten vor. Außerdem versuche ich, Bücher zu finden, die divers sind und sich mit anderen Kulturen beschäftigen. Denn auch die Kinder haben einen diversen Hintergrund. Mein Plan ist es, mich in Zukunft auch als Lesementor zu engagieren. Das ist eine Eins-zu-eins-Patenschaft für ein Kind im Grundschulalter. Mir ist es wichtig zu vermitteln, was Bücher alles ermöglichen können.“
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Elke Heidenreich ist eine der bekanntesten und einflussreichsten Literaturkritikerinnen Deutschlands. Anne Burgmer ist leitende Kulturredakteurin und seit 2015 im Vorstand der Kölner Freiwilligen Agentur – in dieser Funktion ist sie auch für LeseWelten zuständig. Gemeinsam sprechen die beiden über die Liebe zu Büchern und wie das Lesen Leben retten kann.
Elke Heidenreich
Anne Burgmer
Anne Burgmer Liebe Elke, kannst du dich noch an deine ersten Leseerlebnisse erinnern? Bei mir begann die Liebe zu Büchern, als ich mit sechs Jahren für vier Wochen im Krankenhaus lag. Ich hatte einige Wirbel gebrochen und durfte mich nicht bewegen. Handys und Tablets gab es damals noch nicht. Also habe ich alle Bücher, die ich geschenkt bekam, verschlungen. Und seitdem hat es mich nicht mehr losgelassen.
Elke Heidenreich Bei mir war es ähnlich. Meine Mutter hat mir vorgelesen, als ich klein war. Sie hat mich sehr früh an Bücher herangeführt. Ich konnte schon lesen, als ich 1949 eingeschult wurde. Meine Eltern waren beide berufstätig, Deutschland musste ja wieder aufgebaut werden, und ich war den ganzen Tag allein. Zum Teil hat meine Mutter mir die Bücher gekauft oder ich habe sie geschenkt bekommen. Ich hatte auch eine Karte für die Leihbücherei in unserem Stadtteil und durfte mir da immer fünf Bücher pro Woche leihen und später auch zehn, weil sie gesehen haben, wieviel ich lese. Meine Eltern kamen erst abends wieder. Ich saß vor einem Spiegel und habe mir selbst die Bücher vorgelesen, damit ich eine Stimme hörte. Da habe ich so schön lesen gelernt.
AB Ich hatte eine sehr schöne, behütete Kindheit. Bücher haben mich immer begleitet, weil ich es geliebt habe, in fremde Welten einzutauchen. Für dich hatten sie noch eine größere Bedeutung, oder?
EH Mich hat das Lesen gerettet. Meine Kindheit war nicht glücklich, weil meine Eltern nicht glücklich waren, und das überträgt sich auf ein Kind. Wir waren arm. Die Bücher haben mich immer weggeführt in andere Welten. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das lesende Kind am Anfang das pflegeleichte Kind ist, weil es so brav in der Ecke sitzt. Aber spätestens in der Pubertät wird es das schwierige Kind, weil man sich gründlich aus seiner Umgebung weg liest. Die Bücher haben mir gezeigt, dass es eine andere Welt gibt als mein Elternhaus –, dass man anders leben kann. Sie haben mich zu eigenen Meinungen erzogen und zu Widerworten. Das war nicht ganz einfach für meine Mutter.
AB Mich haben vor allem die Bücher von Astrid Lindgren sehr geprägt. Ich habe ihre Mädchenfiguren geliebt, vor allem Ronja Räubertochter, die war so furchtlos und wild. So wollte ich auch sein. Das Buch habe ich heimlich unter der Bettdecke mit einer Taschenlampe gelesen, als ich eigentlich schlafen sollte. Welche Bücher haben dich geprägt?
EH „Dr. Dolittle und seine Tiere“ habe ich sehr geliebt. Später habe ich recherchiert und erfahren, dass der Autor Hugh Lofting eigentlich Ingenieur war. Er wurde aus England in den Ersten Weltkrieg geschickt und versprach seinen Kindern, ihnen täglich zu schreiben, was er erlebt. Aber dieser Krieg war so grauenhaft, dass er das Kindern nicht schreiben konnte. Also schrieb er über Tiere, weil er sah, wie die Pferde im Krieg verreckten, für die setzte sich niemand ein. Er hat diesen gütigen Doktor erfunden, der den Tieren hilft. Und er hat seinen Kindern immer Briefe geschrieben, was Dr. Dolitte wieder macht. Aber ich habe auch die Klassiker gelesen: Märchen, Heldensagen, die Sagen des klassischen Altertums. „Die Häschenschule“, „Der Trotzkopf“, „Nesthäkchen“ und „Heidi“ natürlich.
„Mich hat das Lesen gerettet.“ Elke Heidenreich
AB Fast alle Menschen, die gerne und viel lesen, erzählen, dass sie damit als Kind begonnen haben. Bei dir war es so, bei mir auch. Glaubst du, dass man das Lesen in der Kindheit lernen muss?
EH Es ist wichtig, dass man als Kind schon eine Beziehung zur Sprache bekommt. Auch dass Eltern mit einem Kind sprechen, singen, Gedichte aufsagen. Kinder haben Zugang zur Sprache und man weiß, dass Kinder, mit denen die Eltern reden und denen sie vorlesen, einen viel größeren Wortschatz haben als Kinder, bei denen das nicht passiert. Sie bilden früher Sätze und diese sind länger und komplexer. Sie haben ein anderes Verhältnis zur Sprache, und das ist fürs Leben unendlich wichtig.
„Man muss sich, wenn man liest, in fremde Menschen mit fremden Geschichten hineinversetzen.“ Anne Burgmer
AB Das stimmt. Das hat die jüngste Pisa-Studie ja auch wieder gezeigt. Wenn kein Textverständnis da ist, kann man auch die Aufgaben in anderen Fächern nicht lösen.
EH Ja, mit Sprache fängt alles an. Man muss sie verstehen. Lesen ist eine lebenswichtige Sache, so wie Schwimmen lernen. Man darf das nicht unterschätzen. Man sollte Kinder so früh wie möglich an das Lesen heranführen. Lesen ist kein Luxus und kein Unterhaltungskrempel. Es ist eine lebens- und charakterformende Tätigkeit. Da gibt es große Defizite. Es ist schwer, da später noch reinzurutschen. Und heute, wo es Handys und Tablets gibt, die ablenken, habe ich große Bedenken, ob es funktioniert, später noch mit dem Lesen anzufangen.
AB Initiativen wie LeseWelten sind ja gerade deshalb so wichtig, weil sie Kindern zeigen, wie toll Lesen und Vorlesen ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kinder, wenn man ihnen ein Buch vorliest, das sie mögen, stundenlang sehr konzen-triert zuhören und plötzlich gar nicht mehr mit dem Tablet spielen wollen. Und ich hoffe und glaube, dass ihnen diese Erfahrung hilft, dann auch selbst zu lesen, wenn sie alt genug sind. Du hast auch schon oft vor Kindern gelesen. Und da kommen doch bestimmt auch Eltern zu dir, die fragen, wie sie ihre Kinder fürs Lesen begeistern können. Was sagst du denen?
EH Ich erlebe es oft, dass Eltern zu mir sagen: „Meine Kinder lesen leider nicht.“ Dann frage ich sie: „Lesen Sie denn?“ Und sie antworten: „Dafür fehlt mir die Zeit.“ Kinder machen alles nach, weil sie die Welt noch nicht kennen, beobachten sie genau. Wenn Kinder sehen, wie ihre Mutter oder ihr Vater in einem Buch versinkt, machen sie auch das nach. Man muss das fördern.
AB Beim Lesen ist das Stichwort Empathie sehr, sehr wichtig. Man muss sich, wenn man liest, in fremde Menschen mit fremden Geschichten hineinversetzen. Man nimmt deren Perspektive ein, und plötzlich versteht man sie viel besser. Und genau diese Fähigkeit fehlt doch heute in unserer aufgeheizten Debattenkultur so vielen Menschen.
EH Es ist wichtig, dass sich das entwickelt. Man sieht ja Kinder beim Fernsehen weinen. Wenn ein Dinosaurier stirbt, sind sie traurig. Sie haben eine große Fähigkeit zur Empathie. Die geht im Laufe der Zeit verloren, aber durch Bücher kann man die Welt kennenlernen und das Leben anderer Menschen. Das fördert Empathie.
AB Was macht denn für dich ein gutes Kinderbuch aus? Astrid Lindgren hat gesagt, sie schreibe für das Kind in sich. Es gehe ihr nicht darum, dass Erwachsene ihre Bücher mögen, sondern Kinder. Ich finde, das merkt man ihren Büchern an. Alle Kinderbücher, die mir gefallen, nehmen Kinder ernst und wollen sie nicht belehren.
EH Genau. Enid Blyton hat mal gesagt, Kritik von Menschen über zwölf interessiere sie nicht. Ein gutes Kinderbuch macht genau das aus, was auch ein gutes Buch für Erwachsene ausmacht: eine gute Geschichte und Sprache. Wenn dir keine Geschichte einfällt, dann nützt die beste Sprache nichts. Und wenn du eine gute Geschichte hast, sie aber nicht erzählen kannst, bist du langweilig. Das muss immer zusammenkommen.
AB Du hast vorhin den schönen Satz gesagt, das Lesen habe dich gerettet. So weit würde ich bei mir nicht gehen, aber das Lesen hat meinen Lebensweg entscheidend beeinflusst. Ich habe unter anderem Germanistik studiert und mir einen Beruf ausgesucht, in dem ich das große Privileg habe, lesen zu dürfen. Bei dir ist es genauso.
EH Ja, Bücher haben mir immer gezeigt: Du musst vorwärts gehen. Es gibt etwas anderes, es gibt mehr als das, was du von zu Hause kennst. Letztlich wurden die Bücher dann mein Beruf, mein Leben und meine Liebe – und es war alles richtig.
„Bücher haben mir immer gezeigt: Du musst vorwärts gehen. Es gibt etwas anderes, es gibt mehr als das, was du von zu Hause kennst.“ Elke Heidenreich
Fotos Michael Bause, Thilo Schmülgen
EINE LESereiSe Um diE WeLt
Die Kinderbuchautorin und Geschichtenerzählerin Andrea Karimé ist die neue Schirmherrin von LeseWelten. Sie weiß genau, welche Kraft Worte haben und wie wichtig Fantasie für die Entwicklung von Kindern ist. Andrea Karimé wuchs mit einer deutschen Mutter und einem libanesischen Vater auf. „In unserer Wohnung klang es geheimnisvoll nach Wörtern und Sprachen“, erinnert sie sich. Heute nutzt sie diese Erfahrung, um mit ihrer „Leibspeise“, den Wörtern, magische Welten zu erschaffen. Ihre liebsten Kinderbücher aus verschiedenen Kulturen und Welten erzählen von Freundschaft, Mut und Selbstvertrauen und laden Kinder ab vier Jahren auf eine fantasievolle Reise ein – auch in sich selbst.
„Mein neuer Freund, der Mond“
Walid Taher
Zweisprachig Arabisch-Deutsch
Edition Orient
Ein kleiner Junge entdeckt etwas sehr Geheimnisvolles, als er am Abend mit dem Fahrrad seines Onkels nach Hause fährt: Der Mond ist immer genau da, wo er ist. In jeder Straße, auf jedem Platz. Der Mond kommt zu ihm nach Hause und sogar in sein Zimmer, wenn er das Rollo oben lässt. Der Junge beschließt begeistert, sich mit dem Mond anzufreunden… Der ägyptische Autor Walid Taher erzählt poetisch und mit leisem Humor von der besonderen Weisheit der Kinder. Geschichte und leichtfüßige Buntstift-Illustrationen regen Kinder zum Nachdenken, Fantasieren und Fragen stellen an.
„Dikum dakum“
Ibrahima Ndiaye
Im Selfpublishing erschienen
ibrahima-ndiaya.de
Eine Dürre erfasst eine Tiergemeinschaft in der Savanne. Die Tiere bitten eine alte weise Frau um Hilfe. Die schenkt ihnen einen Zauberspruch. Doch der ist so lang, kein Tier kann ihn sich merken. Aber dann haben Sie eine Idee. Jedes einzelne Tier merkt sich nur einen kleinen Teil… Ein vielschichtiges, spannendes Tiermärchen voller Weisheit. Der klangfeine und geheimnisvolle Zauberspruch „Dikum dakum lakum dinikum, fankum fankum bibi saya“ trägt durch die ganze Geschichte. Er enthält Versatzstücke aus zwei von vielen Sprachen des senegalesisch-deutschen Autors Ibrahima Ndiaye, Arabisch und Malinke, und besingt die Kraft der Gemeinschaft.
„Trommeltraumgirl“
Margarita Engle, Raffael Lopez
Gratitude Verlag
Ein Mädchen, sie nennt sich „Trommeltraumgirl“, will unbedingt trommeln lernen. Gegen alle Widerstände folgt sie diesem Wunsch, bis er am Ende in Erfüllung geht. Kinder gleiten in feinem Sprachrhythmus in diese in leicht schwebenden kurzen Versen geschrieben Geschichte, und sie träumen sich durch wunderschöne Bildräume, in die Sonne und Mond freundlich hineinlächeln und die viel Platz für die Fantasie der Kinder zur Verfügung stellen. Eine Geschichte über Mut und Selbstvertrauen, inspiriert durch das Leben „des chinesisch-afrikanisch-kubanischen Mädchens Millo Castro Zaldarriaga.“
„Ein Tag im Schnee“
Ezra Jack Keats
Carl Auer Verlag
Als Peter morgens aufwacht, ist seine ganze Welt vor dem Haus voller Schnee. Das Wunder wird mit allen Sinnen untersucht. Da knirscht was, da kühlt was und da sind überall Spuren. Den ganzen Tag verbringt Peter im Schnee und formt am Abend einen Ball zum Mitnehmen. Der wundersame Kinderbuchklassiker des US-amerikanischen, jüdischen Autors Ezra Jack Keats erzählt unaufgeregt und in glasklar formulierten Sätzen von den Wundern der Natur. Er lädt Kinder sowohl zum Verweilen auf den wunderschön mit Collagen illustrierten Seiten ein, als auch zum Umherstreifen in den Schnee-Gedanken des Kindes.
„Ein großer Freund“
Babak Saberi, Mehrdad Zaeri
Baobab Verlag
Das Rabenkind hat einen neuen Freund. Die Mutter hat Bedenken. Ist ein Elefant nicht ein wenig zu groß? Aber das Rabenkind sieht das ganz anders und hat kinderkluge Argumente. Wenn es etwas tiefer fliegt, ist das Rabenkind doch genauso groß. Außerdem sind doch sogar die Schatten gleich groß, und Elefantisch muss es auch nicht können. Zeichen und Gesten genügen. Die zauberhafte, schelmische Freundschaftsgeschichte des persischen Kinder buchautors Babak Saberi erzählt von Gemeinsamkeiten und Verschiedensein und von der Kraft der Kinder, Vorgegebenes auf den Prüfstand zu stellen. Meisterhaft macht auch der iranisch-deutsche Illustrator Mehrdad Zaeri vielen Ebenen der Geschichte sichtbar: durch Collagen, Schattenrisse, mit Schraffurtechniken und Buntstiftzeichnungen.
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FREIWILLIGEN AGENTUR E.V.
Clemensstraße 7
50676 Köln
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